|
Die Geschichte des Schlosses Witzschersdorf Nach einem Bericht von Wolfdietrich Wurmb v. Zinck, Darlaten Es war im
Sommer 1938. Ein Besucher war auf dem Wege von der Kreis- und Domstadt
Merseburg nach dem zwölf Kilometer entfernten Witzschersdorf. Er ließ das
weite, eintönige, ganz ländlich geprägte Landschaftsbild auf sich wirken.
Es störte ihn auch nicht die lange Schornsteinreihe der Leunawerke am
westlichen Horizont. In diese Landschaft passte auch Witzschersdorfs
Dorfbild: Bauernhöfe säumten die Dorfstraße; sie lagen dicht nebeneinander,
und die Gärten dahinter (damals so wie heute). Daraus ergab sich eine
geschlossene Dorfanlage, die das Rittergut, solange es bestand, mit einbezog.
Mit dem Baugrund war man sparsam umgegangen ob des fruchtbaren Ackerbodens
hier in der Leipziger Tieflandsbucht. Um
den kleinen Rasenplatz in der Ortsmitte, mit dem schlichten Kriegerdenkmal bei
der Linde, macht die Straße, vom östlichen Dorfeingang kommend, einen
Linksbogen und führt – leider führte – genau auf das Gut zu, davor aber
nach rechts biegend weiter in den Teil des Dorfes, in dem überwiegend die Häuser
der Arbeiter und der Gewerbetreibenden lagen.
Doch der
Besucher hielt inne; sein Blick fiel auf das massive Torhaus des Gutes. Über
dem Torbogen, dessen Wölbung auch hochbeladene Erntewagen hindurch ließ, grüßte
ihn ein steinernes Wappen mit den Initialen „G.v.Z. 1777“. Darüber sah
der Besucher ein Stockwerk mit zwei Fenstern – eine Wohnung? Dann, über dem
zweiteiligen Mansarddach, erhob sich ein Turm im Barockstil,
zinkblechverkleidet, mit Uhrenrund, Schallfenstern und zuoberst einem zerzausten
Wetterhahn, auf den, so schien es, kein rechter Verlass mehr war. Der Ankömmling stand jetzt in der Hofeinfahrt und blickte in den etwa 50 mal 60 Meter messenden, allseits geschlossenen Gutshof. Von der Mittagssonne geblendet, trat er ein wenig zurück unter das mächtige Deckengewölbe zwischen den Torbögen, erkannte jetzt nicht nur die schweren, eichenen Torhälften zu seinen Seiten, sondern auch, hinten rechts in der Südwestecke des Hofes, das zweiflügelige und zweistöckige Gutshaus, welches in schlichtklassischem Stil errichtet war. Es trug ein Mansarddach, wie das auf dem Torhaus, nur höher, da auf breiteren Mauern ruhend. Vor dem Haus stand eine junge, von einem Rundzaun eingefasste Linde. (Sie grünt heute noch.) Der Besucher betrat den Hof, blickte sich um. Eine ganz eigene Gutshof-Atmosphäre umfing ihn. – Er ging auf das Gutshaus zu und sah rechterhand, an der Westseite, ein, so schien es, großes Speichergebäude, mit doppeltem Getreideboden und darunter verschiedenen Räumlichkeiten. Dem schloss sich das Gutshaus an. Drüben, an der Ostseite, lagen erkennbar die Stallungen. An der Südseite des Hofes schmiegte sich ein Mehrzweckgebäude ans Wohnhaus an, und gegenüber endlich schloss eine lange Scheune, dann das Torhaus, durch das er kam, und ein kurzer Anbau den Hofgrundriss zum Rechteck ab.Von
seinem Standpunkt aus linkerhand bildete eine Reihe von fünf jungen Robinien,
die von dem großen Hundezwinger etwa in Hofmitte bis ans Haus reichte, eine
Trennlinie zwischen dem Hofraum vor dem Gutshaus und dem größeren
Wirtschaftsteil. Dort sah er die große, eingefriedete Dungstätte vor den Ställen
und, weiter zum Tor hin, etwa zwölf in Reihe nebeneinander abgestellte schwere
Kastenwagen mit ihren hohen, eisenbereiften Holzspeichenrädern. Der
Gast stand nun vor dem Gutshaus und erblickte über der Haustür im Westflügel
die Initialen „G.v.Z. 1771“. – Aha, so hat dieser Herr G.v.Z. hier
wahrscheinlich begonnen, einen neuen Gutshof zu bauen. Die Jahreszahltafeln an
den anderen Gebäuden bestätigten das. So war sicher von 1771 bis 1777 diese
Hofanlage entstanden, und der Torturm hatte als Krönung den Abschluss gebildet
und dabei dem Dorfe eine neue Silhouette gegeben. Hier
im Flur war es kühl. Der Hausherr, Volkmar Wurmb v. Zinck, begrüßte seinen
Gast, der etwas unsicher fragte: „Hätte ich mich mit der Glocke an dem
Lichtmast wohl anmelden sollen?“ „Aber nein“, lachte Volkmar, „das
hat der Hofhund "Dolf" des Inspektors Leube ja schon getan! Diese Glocke
wird vom Hofmeister Müller morgens und mittags zum pünktlichen Arbeitsbeginn
angeschlagen. Zuvor, des morgens, hat der Inspektor auf seinem Gang durch die Ställe
die anstehenden Arbeiten mit der Belegschaft durchgesprochen. Dem Hofmeister
wiederum obliegt das Öffnen und Schließen des Hoftores morgens und abends. Nur
sonntags bleibt es geschlossen, bis auf die kleine Mitteltür. – Ihre Meinung
über die Zeit der Erbauung des Gutshofes ist sicher richtig. Unterlagen darüber
haben sich allerdings bisher nicht angefunden“. Volkmar
beantwortete dann die Frage nach dem, wie der Gast meinte, beeindruckenden
Torturm. „Hinter den Fenstern über dem Tor befand sich einst die Amtsstube für
die dem Gute früher eigene mindere Gerichtsbarkeit. Und der zerzauste
Wetterhahn sitzt seit gut 160 Jahren auf dem Turm. In dem Jahr 1777 nämlich
hatte Herr ‚G. v. Z.‘, und das ist der Merseburger Dompropst Gottlieb
v.Zinck, ihn auf das vollendete Bauwerk setzen lassen. Man spricht heute noch
bisweilen vom "Zinck´schen Gut". Reichardt Gottlieb von Zinck gehörte einem alten, anhaltinischen Adelsgeschlecht an. Er besaß außer zwei Gütern bei Querfurt auch Solgüter zu Staßfurt. Außerdem war er Gerichtsherr und Konsistorialpräsident am Hohen Stift Merseburg. Im Jahr 1764 erwarb er von der Familie von Hayn das Rittergut Witzschersdorf. Er wahrscheinlich hat es auch vom Merseburger Domstift freigekauft, als ein "Allodialgut", das heißt als lehensfreien Besitz. Bis dahin war das Gut vom Domstift als Lehen an den jeweiligen Bewerber lebenslang vergeben worden.“ Volkmar bemerkte den Blick seines Gastes zur Gartentür und bedeutete ihm: „In den etwa sechs Morgen großen Garten gehen wir noch. Darin sehen wir uns zwischen Busch- und Baumwerk Blumen, Gemüsebeete und Obstwiesen an, auch den langgestreckten Teich, der nach einem Stallbrand 1866 angelegt worden war. Entlang der Südseite des Gartens läuft eine Kastanienhecke vor der angrenzenden Feldflur. Die Nordseite grenzt an das Dorf. Auf dem Mittelweg, der an einem großen Blumenrondell hier am Hause beginnt, gehen wir 150 Meter bis ans Gartentor, dann geradeaus weiter die etwa 400 Meter lange, wohl hundert Jahre alte Kastanienallee entlang. Sie führt längs durch den etwa 16 Morgen großen, etwas verwilderten Park. An dessen Rande, und doch wie mitten drin, liegt idyllisch ein Teich mit einer eigenen Quelle und mit kristallklarem Wasser. Der "Kirchweg" führt daran vorbei.“Sie standen noch im Hausflur. Ihr Blick fiel auf zwei in Stein gehauene, etwa 80 Zentimeter hohe Wappen, die nebeneinander an der Wand über einem Absatz der Steintreppe saßen, die in den oberen Stock führte. Der Hausherr erklärte: „Links sitzt das Zinck’sche, daneben das Hayn’sche Wappen. Die Hayns (fälschlich auch v. Hahn genannt, d.V.) saßen hier ab 1693 über drei Generationen, bis zum Erwerb des Hofes durch Gottlieb v. Zinck. Einer Notiz zufolge sollen die beiden Familien miteinander verschwägert gewesen sein. Aus der Zeit davor ist leider nur wenig bekannt, doch ist in kirchlichen Aufzeichnungen von 1689 ein Junker Christian v. Uechtritz vermerkt. Davor wird von einem Hans v. Obschelwitz, Obschilwitz oder Obselwitz berichtet, der um 1530 auf Witzschersdorf gesessen haben soll. Und der am frühesten genannte Hofherr hieß Kersten v. Zcweym, der 1436 von dem Merseburger Bischof Johannes Bose mit einem Hof – curia sessionis – in ‚Wizersdorph‘ belehnt wurde.“ „Und wie kam die bischöfliche Kirche zu
diesem Grundbesitz?“ fragte der
Besucher. Volkmar erklärte: „Im 13. Jahrhundert residierte der Markgraf
Friedrich von Landsberg in seiner gleichnamigen Mark (Landsberg bei Halle). In
ihr lag auch Merseburg, das um 925 von König Heinrich I. gegründet und 968 von
Kaiser Otto I. zum Bistum erhoben worden war. Im Jahre 1285 hat Markgraf
Friedrich etliche Ländereien seiner Mark an den Merseburger Bischof Heinrich
verkauft, darunter auch ‚Wizersdorph‘, das in diesem Jahr erstmalig
genannt wird.“ Einen
Saal am westlichen Ende des Hausflügels, der die ganze Breite des Hauses
einnahm, hatte der Hausherr, vor seinem Einzug 1937 hier, durch eine Trennwand
mit Durchgang in immer noch geräumige zwei Zimmer unterteilt. Die Wohnung musste
sowieso renoviert werden, denn sie hatte mindestens 45 Jahre leer gestanden.
„Wer nun waren hier
die früheren Bewohner?“, wollte der Gast jetzt wissen. Volkmar berichtete:
„Gottlieb v. Zinck starb im Jahr 1786, neun Jahre nach der Vollendung des
neuen Gutshofes. Er hatte, da er der letzte Spross seiner Familie war, sein Vermögen
im Jahre 1780 der Familie v. Wurmb durch einen Erbvertrag vermacht, den er mit
dem Kabinettsminister in Dresden, Friedrich Ludwig v. Wurmb, Herr auf
Großfurra, abschloß zugunsten dessen zweiten Sohnes Wolf Heinrich, des ältesten
lebenden. Dieser wurde mit dem Tode Gottliebs v. Zinck, 1786 also,
als erster Wurmb Besitzer des Gutes Witzschersdorf, nannte sich fortan Wurmb von
Zinck und führte das vereinigte Wurmb-Zinck´sche Wappen, wie es der Erbvertrag
ihm und den späteren Erben auferlegt hatte. Wolf Heinrich wohnte abwechselnd in Merseburg, wo er als Kammerrat tätig war, und in Witzschersdorf. Als er aber im Jahre 1806 zum Domdechant des Domstifts Naumburg gewählt wurde, musste er seinen Wohnsitz nach dort verlegen.“ „Als
Wolf Heinrich 1838 ebenfalls kinderlos starb, erbte sein Neffe Carl das
Besitztum und den Doppelnamen. Das nach dem Erbvertrag als Fideikommiß
errichtete Gut, das dadurch unteilbar, unverkäuflich und unpfändbar war,
wurde, als man diesen Status als unzweckmäßig ansah, am 22. November 1844
durch "Allerhöchste Kabinettsordre" in den Stand eines Majorats versetzt.
Damit war der jeweils älteste männliche Nachkomme erbberechtigt. Das Gut
blieb trotzdem bisher ungeteilt in der Familie und so soll es auch bleiben“,
stellte Volkmar mit Nachdruck fest. „Carl
Wurmb v.Zinck nun war mit Leib und Seele Husarenoffizier. Schon als junger
Leutnant v. Wurmb nahm er an den Kriegen 1812/13 gegen Russland und
1814/15 gegen Napoleon teil. Nach dessen Kapitulation ritt er vor seiner
Avantgarde
an der Spitze der Siegesparade durch Paris. – Während seiner Dienstzeit ab
1835 in Merseburg als Major und ab 1847 auch Regimentskommandeur wohnte er
oft in Witzschersdorf, nachdem er 1838 das Gut und den Doppelnamen geerbt hatte.
1848 nahm er an der Einweihung der neuen Schule in Witzschersdorf teil. Denn als
Besitzer des Gutes war er auch Patronatsherr von Kirche und Schule in
Schladebach, dem zuständigen Kirchspiel, mit allen Rechten und Pflichten. –
Die Wege nach Witzschersdorf pflegte Carl zu Pferde zurückzulegen. Bis
1851 war Carl Wurmb v. Zinck bis zum Oberst aufgestiegen. Bei seiner von
ihm erbetenen Verabschiedung 1853 wurde er als Generalmajor "zur
Disposition" gestellt. Er nahm seinen Altersruhesitz in Weißenfels. Den schon
erwähnten Brand 1866 auf dem Gut hat er allerdings in Witzschersdorf
miterlebt. "Erhaltet mir den Turm!", rief der greise General, mitten auf dem
Hofe stehend, der Löschmannschaft zu – so erzählt es ein Bericht. Die
abgebrannten Stallungen wurden bald wieder aufgebaut. Und es wurden Brandmauern
zwischen die Ställe gesetzt und bis über das Dach geführt, wie wir jetzt noch
sehen können. Viehverluste soll es nicht gegeben haben. Zu seinem 90. Geburtstag wurde Carl vom Kaiser der Charakter als Generalleutnant verliehen. Auch wurde er zum Schlosshauptmann von Merseburg ernannt. – Carl Wurmb v. Zinck starb im Jahr 1890 im Alter von 95 Jahren. Er war eine herausragende Persönlichkeit als Offizier wie in der Familie. Von ihr wurde er zum Ehrensenior ernannt.“ Nach dem Mittagstisch luden Volkmar und seine Frau Margarita die nun drei Gäste zu einer Tasse Kaffee auf dem neuen Balkon des Hauses ein. Volkmar hatte ihn jetzt (1938) anbauen lassen; drei Pfeiler stützten ihn. Hier, im Schatten der Markise, brachte er seinen Bericht zu Ende: „Carls Sohn Wolf verunglückte mit dem Pferd tödlich, noch zu Lebzeiten des Vaters. So erbte Wolfs Sohn Hans vom Großvater das Gut Witzschersdorf. Doch schon 1892, zwei Jahre später, starb Hans Wurmb v. Zinck, 43 Jahre alt, an einer Krankheit. Er hinterließ seine Ehefrau Margarethe (Margot) als 28-jährige Witwe und drei Kinder. Hans hat sicherlich nicht in Witzschersdorf gewohnt; er bewirtschaftete schon die freie Standesherrschaft Leuthen seiner Mutter (bei Cottbus, noch erhalten, d.V.). Hans hatte im Regiment der Garde du Corps als Rittmeister gedient. Hans` Sohn Wilhelm (Willy), der, erst sieben Jahre alt, nun Witzschersdorf erbte, hat davon noch weniger als sein Vater gehabt. Denn er wurde leider frühzeitig geisteskrank, kam in ein Kurheim und starb bereits 1930 mit 45 Jahren. Er hatte außer Witzschersdorf noch das Schloss Lagow in der Neumark (ist noch erhalten, d.V.; s.S. 44 ) von seiner Tante, Gräfin Wrschowetz geerbt. Seine Mutter, Margot, die bis zur Vertreibung 1945 durch die Russen mit ihren beiden Töchtern auf dem Schloss wohnte, verwaltete die beiden Besitze bis zu seinem Tod.“ Volkmars Informationen stützten sich auch auf „Altgeographische Streifzüge
durch das Hochstift Merseburg“ von Pastor O. Küstermann. Volkmar war nun,
1930, Erbe seines verstorbenen Vetters (dritten Grades) Wilhelm Wurmb v.
Zinck geworden. Auf
ihren Wunsch hin führte Volkmar seine Gäste jetzt durch die Ställe.
Feuchtwarme, tierisch duftende Stallluft umfing sie. „Wir haben hier sechs
Paar Zugpferde, schweres Kaltblut, ein Paar davon etwas leichtere. Drei Gespanne
sind unterwegs: Eines bringt gerade Stroh aus der Feldscheune als Nachschub für
den Hof, ein anderes holt mit dem Rollwagen, einem leichten, gefederten
Plattformwagen, Fracht vom Bahnhof, dem dritten schlägt der Dorfschmied neue
Eisen unter die Hufe. Wir haben jetzt gerade eine arbeitsarme Zeit und Glück,
dass nicht alle Pferde draußen sind. – Hier nun stehen 35 schwarzbunte Kühe
(schwarzweiß) und ein Deckbulle. Das Melken, Füttern, Tränken und Misten der
Tiere besorgen der Ober- und Unterschweizer, so nennt man das Melkpersonal,
sowie ein Lehrling. Sie versorgen auch etwa 15 Jungrinder einen Stall weiter,
und die etwa 40 Zucht- u. Mastschweine, die wir eben sahen. Der Schweizer
hat mit seiner Frau eine kleine Wohnung auf dem Hof; sein Arbeitstag ist ja auch
lang. Schon morgens um sieben holt das Milchfuhrwerk die ermolkene Abend- und
Morgenmilch für die Molkerei vom Hof ab. Vielleicht werden einmal Melkmaschinen
das Melken erleichtern. Der Schweizer gibt als Milchleistung etwa 3.000 Liter
je Kuh und Jahr im Stalldurchschnitt an. – Hier am Ende des Stalltraktes
stehen noch vier Paar Zugochsen, die ihre Feldarbeit gemächlich, jedoch mit großer
Ausdauer verrichten.“ Auf
der anderen Seite des Hofes, nahe dem Hoftor, zeigte der Gutsherr die
Stellmacherwerkstatt. Es roch nach bearbeitetem Holz und nach Wagenschmiere.
„Der Stellmacher sorgt für die Instandhaltung des Wagenparks und macht auch
kleine Reparaturen in Haus und Hof. Benötigte Eisenteile und Beschläge fertigt
unser Dorfschmied an“, erläuterte Volkmar. Der
Rollwagen mit dem Ersatzteil war schon zurück und das Gespann jetzt frei für
eine Kutschfahrt über die Felder. Dazu reichte die Zeit noch. – Volkmar
informierte zuvor: „Das Gut ist alles in allem 485 Morgen groß. Vier Morgen
sind ein Hektar oder 10.000 Quadratmeter. Das Gut ist mit 121,3311 Hektar im
Grundbuch eingetragen. Gleich am Nordrand des Dorfes liegen 300 Morgen
Ackerland in einem Stück. Die sind schnell erreicht. Ein Mittelweg führt uns
dann eineinhalb Kilometer längs durch das etwa 500 Meter breite
Rittergutsfeld.“ „Also
hüh!“ Nach kurzer Holperfahrt über das jetzt 40 Jahre liegende Dorfpflaster
ging es geradeaus weiter auf dem langen Feldweg. Weit schweifte der Blick über
die freie, ebene Feldflur. Eine Seite des Weges säumten Apfelbäume. „Komm
Liese, lass den Hans nicht allein ziehen!“ Der Kutscher kitzelte den rechten
Braunen mit der langen Peitsche. „Die Liese ist im vierten Monat trächtig,
sie sollte bald nur noch leichte Arbeit tun“, erläuterte er, sich auf seinem
Kutschersitz umwendend. „Darf ich doch sagen, Herr Baron, oder?“ Diese
Anrede des Gutsherrn war hier noch üblich. „Ja, natürlich! Und passen Sie
nur gut auf die Stute auf!“, antwortete Volkmar. „Wann wird denn das Fohlen
kommen?“, fragte einer der Mitfahrer. „Sieben Monate wird‘s noch
dauern“, war die Antwort des Kutschers. Sie fuhren an der offenen Feldscheune vorbei. Volkmar
wies nun mit dem Arm in die Runde: „Hier haben wir einen Blick auf die dunkelgrünen Zuckerrüben- und goldgelben
Weizenfelder. Der fruchtbare Lösboden – Bodenzahl über 80 – ergibt,
zusammen mit guter Düngung, den kräftigen Wuchs. Bald werden unsere beiden
Mähbinder
die Getreidepläne umrunden, von je drei Pferden gezogen, werden das Getreide mähen
und zu gleichmäßig festen Garben binden und laufend abwerfen. Eine Gruppe
Frauen wird sie zusammentragen und in Reihen zu ‚Hocken‘ oder ‚Puppen‘
aufstellen, damit Sonne und Wind sie trockne. Nach mehreren Tagen, je nach
Wetter, werden die mit breitem Ladegestell versehenen Ackerwagen an den Reihen
entlang und schließlich hochbeladen, dabei sorgfältig und gerade
gepackt, zur Feldscheune oder auch zum Hof fahren, wo man sie entlädt und sie
zurückkehren, bis das Feld geräumt ist. Vor den von vielen fleißigen Händen
bis unter’s Dach gepackten Getreidebansen in Feld-, Dorf- und Hofscheune
verrichtet dann im Winter die dort aufgestellte Dreschmaschine kräftig staubend
ihre Arbeit. Die Zuckerrüben sind eine
‚Hackfrucht‘. Bis zum Schließen der Reihen benötigen sie viel Pflege mit
den Handhacken der Frauen gegen das Unkraut. Eine von einem Pferd gezogene
Hackmaschine hilft dabei. Das folgende ‚Verziehen‘, das Vereinzeln der Rüben,
haben die Schulkinder, auf Knien rutschend, gegen ein gutes Taschengeld
verrichtet während der ‚Zuckerrübenferien‘ (drei Wochen, und drei Wochen
Herbstferien, d.V.). Ein Erwachsener passt auf, dass bei dieser wichtigen Arbeit
keiner pfuscht. Im Spätherbst
werden die Zuckerrüben mit Spezialgabeln aus dem schweren Boden gehoben, die
Blätter von der Rübe geköpft, beides getrennt abgefahren, die Rüben in die
Zuckerfabrik im acht Kilometer entfernten Lützen, das Blatt in flache Gärfuttersilos
am Feldrand. Das ergibt ein von den Kühen gern gefressenes Saftfutter, denn
diese müssen wegen fehlenden Weidelandes leider das ganze Jahr im Stall
stehen. Die Zuckerfabrik gibt entzuckerte, getrocknete Rübenschnitzel als
Zusatzfutter zurück. Dort drüben sehen wir noch Roggen, Gerste, Hafer für die Pferde, Luzerne, genannt die "Königin der Futterpflanzen", und, vorn auf dem mehr sandigen "Steinberg", noch Kartoffeln als Förderer der Bodengare und für die Schweinemast. Sie alle sorgen für eine gute Fruchtfolge. Unser Winterheu? – Das im Juni gemähte Gras wird zum Trocknen gewendet, in Reihen gezogen und mit langen Gabeln aufgeladen zur Fahrt nach Hause von unseren leider zwölf Kilometer entfernten Wiesen. Es wird auf dem Stallboden eingelagert.– Nur gutes Wetter ergibt gutes Heu.“ Nach staubiger Fahrt wurde am Gasthaus Plato „Zur freien Aussicht“ am Dorfrand angehalten und ein erfrischender Schluck zu sich genommen. Der Kutscher trank hastig; er mochte die auch durstigen Pferde nicht lange allein lassen. „Fahren Sie man schon los!“ Damit entließ Volkmar den Kutscher. Die übrigen besprachen noch das Gesehene und waren dann nach einem Fünf-Minuten-Fußweg auch bald zu Hause.Ehe sie aber den Gutshof erreichten, blieb einer der Gruppe stehen und betrachtete eine Steintafel, die in eine Wand zwischen zwei Scheunentoren eingelassen war. „C. Wb. v. Z. 1853“ stand dort eingemeißelt. Volkmar erklärte: „Diese Initialen stehen für ‚Carl Wurmb v. Zinck‘. Der schon erwähnte Husarengeneral, mein Urgroßvater, hat im Jahr seiner Verabschiedung, 1853 also, diese massive Scheune hier an der Dorfstraße, gleich neben der Gutseinfahrt, errichtet. Man brauchte Stauraum, zumal die heutige Hofscheune damals, vor dem Brand, Schafstall war. – Gehen wir nun ins Haus; Margarita wird das Abendessen wohl schon gerichtet haben!“. . . Dieser Tag
in Witzschersdorf klingt hiermit aus. Wir verlassen jetzt die Gruppe und
betrachten
für uns die Ereignisse seit Volkmars Erbantritt 1930. 1897 geboren, musste er sich als Oberleutnant der Reichswehr die
Annahme des Erbes reiflich überlegen. Ein erstelltes Wirtschaftsgutachten
machte ihm dann die Entscheidung leicht. Der Gutachter: „Zu Ihrer Erbschaft
kann man Ihnen nur gratulieren!“ So nahm Volkmar 1937 als Hauptmann seinen
Abschied vom Militärdienst und zog mit seiner Familie, Frau und zwei Söhnen,
Jahrgang 25 und 28, nach Witzschersdorf. Er wollte die Gutswirtschaft selbst führen.
Das Gut war aber noch bis 1944 verpachtet. Volkmar hatte somit noch sieben Jahre
Zeit zur Eingewöhnung. Dabei half ihm sein Schwager Walther Lübbe, Fachmann
in landwirtschaftlicher Betriebsführung, und sein Schwiegervater Friedrich Köper
unterstützte ihn finanziell. – In dieser Zeit suchte Volkmar und fand
auch den Kontakt zum Dorfe. Der 1939
ausbrechende Krieg setzte alledem ein Ende. Volkmar wurde als
Reserveoffizier wieder eingezogen, kam nach Polen, dann nach Russland. 1942
wurde er zum Major befördert und mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.
1943 gelang es ihm, sich u.k. (unabkömmlich) stellen zu lassen. Das Gut
Witzschersdorf war 1936 zum Erbhof nach dem Erbhofgesetz erklärt worden, und
Volkmar nannte sich Erbhofbauer. Wohl dadurch und wegen des Ablaufs des
Pachtvertrages am 29. Februar 1944 wurde seine Heimkehr noch vor Kriegsende möglich. Doch
schon bei der Betriebsübernahme begannen für Volkmar die Schwierigkeiten.
Die Kuhherde des Pächters, einer Rübenbaugesellschaft, bestand großenteils
aus abgemolkenen Kühen, deren Übernahme Volkmar verweigerte. Die Gebäude und
das tote Inventar waren in letzter Zeit vernachlässigt, der Zuckerrübenanbau
zu stark ausgeweitet, die Felder zum Teil verunkrautet. Das hatte Volkmar mit
dem Pächter noch auszufechten. – Zur Verbesserung der Feldwirtschaft hatte er
schon vor Pachtablauf einen 45-PS-MAN-Schlepper angeschafft, um ihn rechtzeitig
zur Frühjahrsbestellung einsetzen zu können. Damit hatte er auch die
Motorisierung des Betriebes eingeleitet. Neue
Probleme drängten sich auf. Die nahen Leunawerke (9 km) waren zunehmend Ziel
von Luftangriffen, was auch die umliegenden Orte zu spüren bekamen. Im Herbst
1944 mit Wintersaat schon bestellte Felder wurden durch Bombentrichter verwüstet,
was Volkmar viel Ärger bereitete. Margarita hatte mit der Aufnahme der
Verwandten zu tun, die hier vor den städtischen Bombardements Schutz suchten.
Aber auch hier gingen durch nahe Bombeneinschläge Fensterglas und Dachziegel
zu Bruch, was notdürftig repariert werden konnte. Wenn es dabei geblieben wäre! Doch am 5. April 1945, nach Mitternacht, ging eine britische Fliegerbombe, sehr wahrscheinlich aber eine Luftmine, dicht hinter der Hofscheune des Rittergutes nieder. Der nach oben abgestützte Kartoffelkeller unter der Scheune wurde seitlich eingedrückt. Siebenunddreißig Personen hatten darin Schutz gesucht, es überlebte e i n e ! Nur noch tot
konnten geborgen werden: Die
Gebäudeschäden waren außergewöhnlich groß. Fast die Hälfte des Gutshofes
mitsamt dem Torhaus mit Turm war zerstört, die übrigen Gebäude beschädigt,
auch der Nachbarhof verwüstet. Pferde und Rindvieh lagen unter Trümmern
begraben. Viele Häuser im Dorf waren demoliert, ihre Dächer abgedeckt. –
Zwölf Tage später besetzten US-Truppen das Land; bis dahin fielen keine Bomben
mehr. Die letzte noch brachte über Witzschersdorf Tod und Zerstörung! Erbe
war nun Volkmars älterer Sohn Wolfdietrich – falls er noch am Leben war. Denn
von ihm fehlte jede Nachricht. Er saß in amerikanischer, dann französischer
Gefangenschaft und erfuhr erst ein Jahr später von dem Unglück. Nach seiner
Entlassung 1949 gab es für ihn keine Rückkehr nach Witzschersdorf mehr; er
fand dafür ein Unterkommen bei seinem Großvater Köper in Bremen. Denn inzwischen,
im September 1945, war das väterliche Gut entschädigungslos enteignet
worden, nachdem es unter sowjetische Besatzung geraten war. Es wurde sogleich
unter zehn Bauernfamilien aufgeteilt, die aus den besetzten deutschen
Ostgebieten geflüchtet oder vertrieben worden waren. Jeder Familie wurden
knapp 6 Hektar vom Rittergutsfeld zugeteilt; einheimische, „landarme“
Bauern und Landarbeiter erhielten Klein- und Kleinstparzellen. Der Rest
wurde mit einer Landmaschinenstation sowie mit mehreren Wohnhäusern bebaut.
Die im Gutshaus
untergekommenen Wurmbschen Verwandten mussten fünf für
den Gutshof bestimmten „Neubauer“-Familien Platz machen und, unter Zurücklassung aller
Wurmbschen Habe, die ihnen im Dorf zugewiesenen Unterkünfte beziehen. 1947 wurden alle
„Angehörigen der Sippe von Wurmb“ des Landkreises verwiesen. Auf dem
Gut begannen 1949 die „Umbaumaßnahmen“: Der Südflügel des Wohnhauses
wurde durch Abbruch des oberen Stockwerkes zur einstöckigen Bauernstelle. In
die übrigen Gebäude riss man Baulücken. Dem fiel auch der andere Flügel
des Gutshauses ganz zum Opfer. Den Ausbau der so entstandenen
Einzel-Bauernstellen mussten die „Neubauern“ unter der Aufsicht der kommunistischen Baubehörde selbst bewerkstelligen. Und wehe, es
baute einer zu hoch! – Der Gutsgarten wurde auch parzelliert, die
Kastanienallee zu Brennholz verarbeitet. Die Liquidierung des
Rittergutes aber nach 660 Jahren Bestand bleibt ein trauriges Beispiel dafür,
was menschlicher Unverstand anrichten kann. – Diese Erzählung möchte nicht
nur dieses aufzeigen, sondern viel lieber darstellen wie
Witzschersdorf sich entwickelt und wie es zuletzt gelebt hat. |
Das Zincksche Wappen über einer Seitentür
|
21.10.2004