Die Geschichte des Schlosses Witzschersdorf

Nach einem Bericht von Wolfdietrich Wurmb v. Zinck, Darlaten

Vorbemerkung: Der Tag, den der Gutsherr, Volkmar Wurmb v. Zinck, mit seinen erdachten Gästen auf dem Rittergut Witzschersdorf ver- bringt, wie nachfolgend geschildert wird, fällt in die Zeit, in der das Gut verpachtet war (1938). Volkmar war damals zwar dessen Eigentümer, nicht aber der Betriebsinhaber. Das Gut war verpachtet. Mit dem vom Pächter eingesetzten Inspektor, der mit seiner Frau im Gutshaus unten wohnte, stand er in gutem Verhältnis. Bei Pachtablauf im Februar 1944 übernahm Volkmar dann das Gut. – Der Leser möge nachfolgend nicht die Schilderung eines Spitzenbetriebes erwarten, eher die eines schlichten,  durchschnittlichen Gutsbetriebes  damaliger  Zeit.

Es war im Sommer 1938. Ein Besucher war auf dem Wege von der Kreis- und Domstadt  Merseburg nach dem zwölf Kilometer entfernten Witzschersdorf. Er ließ das weite, eintönige, ganz ländlich geprägte Landschaftsbild auf sich wirken. Es störte ihn auch nicht die lange Schornsteinreihe der Leunawerke am westlichen Horizont. In diese Landschaft passte auch Witzschersdorfs Dorfbild: Bauernhöfe säumten die Dorfstraße; sie lagen dicht nebeneinander, und die Gärten dahinter (damals so wie heute). Daraus ergab sich eine geschlossene Dorfanlage, die das Rittergut, solange es bestand, mit einbezog. Mit dem Baugrund war man sparsam umgegangen ob des fruchtbaren Ackerbodens hier in der Leipziger Tieflandsbucht.

Nicht üppigen Wohlstand, doch ein über die Jahre hinweg sicheres Einkommen der Bewohner konnte der Besucher aus dem schlicht und ordentlich wirkenden Dorfbild erahnen. Die Ackernahrung war vielfach knapp bemessen, und mancher Bauer spannte seine Kühe an; ein Pferd zu halten, war zu teuer. Auch das Rittergut, das eher zu den kleineren Gütern zählte, gestattete seinem Herren nicht unbedingt ein üppiges Leben, wenn er dabei Hof und Wirtschaft in Ordnung halten wollte.                

Um den kleinen Rasenplatz in der Ortsmitte, mit dem schlichten Kriegerdenkmal bei der Linde, macht die Straße, vom östlichen Dorfeingang kommend, einen Linksbogen und führt – leider führte – genau auf das Gut zu, davor aber nach rechts biegend weiter in den Teil des Dorfes, in dem überwiegend die Häuser der Arbeiter und der Gewerbetreibenden lagen.

Doch der Besucher hielt inne; sein Blick fiel auf das massive Torhaus des Gutes. Über dem Torbogen, dessen Wölbung auch hochbeladene Erntewagen hindurch ließ, grüßte ihn ein steinernes Wappen mit den Initialen „G.v.Z. 1777“. Darüber sah der Besucher ein Stockwerk mit zwei Fenstern – eine Wohnung? Dann, über dem zweiteiligen Mansarddach, erhob sich ein Turm im Barockstil, zinkblechverkleidet, mit Uhrenrund, Schallfenstern und zuoberst einem zerzausten Wetterhahn, auf den, so schien es, kein rechter Verlass mehr war.

Der Ankömmling stand jetzt in der Hofeinfahrt und blickte in den etwa 50 mal 60 Meter messenden, allseits geschlossenen Gutshof. Von der Mittagssonne geblendet, trat er ein wenig zurück unter das mächtige Deckengewölbe zwischen den Torbögen, erkannte jetzt nicht nur die schweren, eichenen Torhälften zu seinen Seiten, sondern auch, hinten rechts in der Südwestecke des Hofes, das zweiflügelige und zweistöckige Gutshaus, welches in schlichtklassischem Stil errichtet war. Es trug ein Mansarddach, wie das auf dem Torhaus, nur höher, da auf breiteren Mauern ruhend. Vor dem Haus stand eine junge, von einem Rundzaun eingefasste Linde. (Sie grünt heute noch.) Der Besucher betrat den Hof, blickte sich um.

Eine ganz eigene Gutshof-Atmosphäre umfing ihn. – Er ging auf das Gutshaus zu und sah rechterhand, an der Westseite, ein, so schien   es, großes Speichergebäude, mit doppeltem Getreideboden und darunter verschiedenen Räumlichkeiten. Dem schloss sich das Gutshaus an. Drüben, an der Ostseite, lagen erkennbar die Stallungen. An der Südseite des Hofes schmiegte sich ein Mehrzweckgebäude ans Wohnhaus an, und gegenüber endlich schloss eine lange Scheune, dann das Torhaus, durch das er kam, und ein kurzer Anbau den Hofgrundriss zum Rechteck ab.  

Von seinem Standpunkt aus linkerhand bildete eine Reihe von fünf jungen Robinien, die von dem großen Hundezwinger etwa in Hofmitte bis ans Haus reichte, eine Trennlinie zwischen dem Hofraum vor dem Gutshaus und dem größeren Wirtschaftsteil. Dort sah er die große, eingefriedete Dungstätte vor den Ställen und, weiter zum Tor hin, etwa zwölf in Reihe nebeneinander abgestellte schwere Kastenwagen mit ihren hohen, eisenbereiften Holzspeichenrädern.

Der Gast stand nun vor dem Gutshaus und erblickte über der Haustür im Westflügel die Initialen „G.v.Z. 1771“. – Aha, so hat dieser Herr G.v.Z. hier wahrscheinlich begonnen, einen neuen Gutshof zu bauen. Die Jahreszahltafeln an den anderen Gebäuden bestätigten das. So war sicher von 1771 bis 1777 diese Hofanlage entstanden, und der Torturm hatte als Krönung den Abschluss gebildet und dabei dem Dorfe eine neue Silhouette gegeben.

Der Ankömmling betrat durch die schwere Doppeltür den unteren Hausflur, von dem aus man in die verschiedenen Hausbereiche gelangte sowie auch in den an der Westseite des Hauses gelegenen Garten.

Hier im Flur war es kühl. Der Hausherr, Volkmar Wurmb v. Zinck, begrüßte seinen Gast, der etwas unsicher fragte: „Hätte ich mich mit der Glocke an dem Lichtmast wohl anmelden sollen?“  „Aber nein“, lachte Volkmar, „das hat der Hofhund "Dolf" des Inspektors Leube ja schon getan! Diese Glocke wird vom Hofmeister Müller morgens und mittags zum pünktlichen Arbeitsbeginn angeschlagen. Zuvor, des morgens, hat der Inspektor auf seinem Gang durch die Ställe die anstehenden Arbeiten mit der Belegschaft durchgesprochen. Dem Hofmeister wiederum obliegt das Öffnen und Schließen des Hoftores morgens und abends. Nur sonntags bleibt es geschlossen, bis auf die kleine Mitteltür. – Ihre Meinung über die Zeit der Erbauung des Gutshofes ist sicher richtig. Unterlagen darüber haben sich allerdings bisher nicht angefunden“.

Volkmar beantwortete dann die Frage nach dem, wie der Gast meinte, beeindruckenden Torturm. „Hinter den Fenstern über dem Tor befand sich einst die Amtsstube für die dem Gute früher eigene mindere Gerichtsbarkeit. Und der zerzauste Wetterhahn sitzt seit gut 160 Jahren auf dem Turm. In dem Jahr 1777 nämlich hatte Herr ‚G. v. Z.‘, und das ist der Merseburger Dompropst Gottlieb  v.Zinck, ihn auf das vollendete Bauwerk setzen lassen. Man spricht heute noch bisweilen vom "Zinck´schen Gut".

Reichardt Gottlieb von Zinck gehörte einem alten, anhaltinischen Adelsgeschlecht an. Er besaß außer zwei Gütern bei Querfurt auch Solgüter zu Staßfurt. Außerdem war er Gerichtsherr und Konsistorialpräsident am Hohen Stift Merseburg. Im Jahr 1764 erwarb er von der Familie von Hayn das Rittergut Witzschersdorf. Er wahrscheinlich hat es auch vom Merseburger Domstift freigekauft, als ein "Allodialgut", das heißt als lehensfreien Besitz. Bis dahin war das Gut vom Domstift als Lehen an den jeweiligen Bewerber lebenslang vergeben worden.“

Volkmar bemerkte den Blick seines Gastes zur Gartentür und bedeutete ihm: „In den etwa sechs Morgen großen Garten gehen wir noch. Darin sehen wir uns zwischen Busch- und Baumwerk Blumen, Gemüsebeete und Obstwiesen an, auch den langgestreckten Teich, der nach einem Stallbrand 1866 angelegt worden war. Entlang der Südseite des Gartens läuft eine Kastanienhecke vor der angrenzenden Feldflur. Die Nordseite grenzt an das Dorf. Auf dem Mittelweg, der an einem großen Blumenrondell hier am Hause beginnt, gehen wir 150 Meter bis ans Gartentor, dann geradeaus weiter die etwa 400 Meter lange, wohl hundert Jahre alte Kastanienallee entlang. Sie führt längs durch den etwa 16 Morgen großen, etwas verwilderten Park. An dessen Rande, und doch wie mitten drin, liegt idyllisch ein Teich mit einer eigenen Quelle und mit kristallklarem  Wasser. Der "Kirchweg" führt daran vorbei.“

Sie standen noch im Hausflur. Ihr Blick fiel auf zwei in Stein gehauene, etwa 80 Zentimeter hohe Wappen, die nebeneinander an der Wand über einem Absatz der Steintreppe saßen, die in den oberen Stock führte. Der Hausherr erklärte: „Links sitzt das Zinck’sche, daneben das Hayn’sche Wappen. Die Hayns (fälschlich auch v. Hahn genannt, d.V.) saßen hier ab 1693 über drei Generationen, bis zum Erwerb des Hofes durch Gottlieb v. Zinck. Einer Notiz zufolge sollen die beiden Familien miteinander verschwägert gewesen sein.                    

Aus der Zeit davor ist  leider nur wenig bekannt, doch ist in kirchlichen Aufzeichnungen von 1689 ein Junker Christian v. Uechtritz vermerkt. Davor wird von einem Hans v. Obschelwitz, Obschilwitz oder Obselwitz berichtet, der um 1530 auf Witzschersdorf gesessen haben soll. Und der am frühesten genannte Hofherr hieß Kersten v. Zcweym, der 1436 von dem Merseburger Bischof Johannes Bose mit einem Hof – curia sessionis – in ‚Wizersdorph‘ belehnt wurde.“

„Und wie kam die bischöfliche Kirche zu diesem Grundbesitz?“ fragte der Besucher. Volkmar erklärte: „Im 13. Jahrhundert residierte der Markgraf Friedrich von Landsberg in seiner gleichnamigen Mark (Landsberg bei Halle). In ihr lag auch Merseburg, das um 925 von König Heinrich I. gegründet und 968 von Kaiser Otto I. zum Bistum erhoben worden war. Im Jahre 1285 hat Markgraf Friedrich etliche Ländereien seiner Mark an den Merseburger Bischof Heinrich verkauft, darunter auch ‚Wizersdorph‘, das in diesem Jahr erstmalig genannt wird.“

Der Hausherr führte seinen Gast nun in die herrschaftliche Wohnung im oberen Stockwerk  im südlichen Hauptflügel des Hauses. Hohe zweiflügelige Türen führten beiderseits des mit breiten Dielen belegten, langen Flures in jedes der Zimmer. Dem Gast fielen die tiefen Fensternischen überall auf, an denen man die wohl 70 Zentimeter dicken Außenmauern erkennen konnte.

Einen Saal am westlichen Ende des Hausflügels, der die ganze Breite des Hauses einnahm, hatte der Hausherr, vor seinem Einzug 1937 hier, durch eine Trennwand mit Durchgang in immer noch geräumige zwei Zimmer unterteilt. Die Wohnung musste sowieso renoviert werden, denn sie hatte mindestens 45 Jahre leer gestanden.  

 „Wer nun waren hier die früheren Bewohner?“, wollte der Gast jetzt wissen. Volkmar berichtete: „Gottlieb  v. Zinck starb im Jahr 1786, neun Jahre nach der Vollendung des neuen Gutshofes. Er hatte, da er der letzte Spross seiner Familie war, sein Vermögen im Jahre 1780 der Familie v. Wurmb durch einen Erbvertrag vermacht, den er mit dem Kabinettsminister in Dresden, Friedrich Ludwig  v. Wurmb, Herr auf Großfurra, abschloß zugunsten dessen zweiten Sohnes Wolf Heinrich, des ältesten lebenden. Dieser wurde mit dem Tode Gottliebs  v. Zinck,  1786 also, als erster Wurmb Besitzer des Gutes Witzschersdorf, nannte sich fortan Wurmb von Zinck und führte das vereinigte Wurmb-Zinck´sche Wappen, wie es der Erbvertrag ihm und den späteren Erben auferlegt hatte. 

Wolf Heinrich wohnte abwechselnd in Merseburg, wo er als Kammerrat tätig war, und in Witzschersdorf. Als er aber im Jahre 1806 zum Domdechant des Domstifts Naumburg gewählt wurde, musste er seinen Wohnsitz nach dort verlegen.“

„Als Wolf Heinrich 1838 ebenfalls kinderlos starb, erbte sein Neffe Carl das Besitztum und den Doppelnamen. Das nach dem Erbvertrag als Fideikommiß errichtete Gut, das dadurch unteilbar, unverkäuflich und unpfändbar war, wurde, als man diesen Status als unzweckmäßig ansah, am 22. November 1844 durch "Allerhöchste Kabinettsordre" in den Stand eines Majorats versetzt. Damit war der jeweils älteste männliche Nachkomme erbberechtigt. Das Gut blieb trotzdem bisher ungeteilt in der Familie und so soll es auch bleiben“, stellte Volkmar mit Nachdruck fest.

„Carl Wurmb v.Zinck nun war mit Leib und Seele Husarenoffizier. Schon als junger Leutnant  v. Wurmb nahm er an den Kriegen 1812/13 gegen Russland und 1814/15 gegen Napoleon teil. Nach dessen Kapitulation ritt er vor seiner Avantgarde an der Spitze der Siegesparade durch Paris. – Während seiner Dienstzeit ab 1835 in Merseburg als Major und ab 1847 auch Regimentskommandeur wohnte er oft in Witzschersdorf, nachdem er 1838 das Gut und den Doppelnamen geerbt hatte. 1848 nahm er an der Einweihung der neuen Schule in Witzschersdorf teil. Denn als Besitzer des Gutes war er auch Patronatsherr von Kirche und Schule in Schladebach, dem zuständigen Kirchspiel, mit allen Rechten und Pflichten. – Die Wege nach Witzschersdorf pflegte Carl zu Pferde zurückzulegen.

 Bis 1851 war  Carl Wurmb v. Zinck bis zum Oberst aufgestiegen. Bei seiner von ihm erbetenen Verabschiedung 1853 wurde er als Generalmajor "zur Disposition" gestellt. Er nahm seinen Altersruhesitz in Weißenfels. Den schon erwähnten Brand 1866 auf dem Gut hat er allerdings in Witzschersdorf miterlebt. "Erhaltet mir den Turm!", rief der greise General, mitten auf dem Hofe stehend, der Löschmannschaft zu – so erzählt es ein Bericht. Die abgebrannten Stallungen wurden bald wieder aufgebaut. Und es wurden Brandmauern zwischen die Ställe gesetzt und bis über das Dach geführt, wie wir jetzt noch sehen können. Viehverluste soll es nicht gegeben haben.

Zu seinem 90. Geburtstag wurde Carl vom Kaiser der Charakter als Generalleutnant verliehen. Auch wurde er zum Schlosshauptmann von Merseburg ernannt. –  Carl  Wurmb  v. Zinck starb im Jahr 1890 im Alter von 95 Jahren. Er war eine herausragende Persönlichkeit als Offizier wie in der Familie. Von ihr wurde er zum Ehrensenior ernannt.“

Nach dem Mittagstisch luden Volkmar und seine Frau Margarita die nun drei Gäste zu einer Tasse Kaffee auf dem neuen Balkon des Hauses ein. Volkmar hatte ihn jetzt (1938) anbauen lassen; drei Pfeiler stützten ihn. Hier, im Schatten der Markise, brachte er seinen Bericht zu Ende: „Carls Sohn Wolf verunglückte mit dem Pferd tödlich, noch zu Lebzeiten des Vaters. So erbte Wolfs Sohn Hans vom Großvater das Gut Witzschersdorf. Doch schon 1892, zwei Jahre später, starb  Hans  Wurmb v. Zinck, 43 Jahre alt, an einer Krankheit. Er hinterließ seine Ehefrau Margarethe (Margot) als 28-jährige Witwe und drei Kinder. Hans hat sicherlich nicht in Witzschersdorf gewohnt; er bewirtschaftete schon die freie Standesherrschaft Leuthen seiner Mutter (bei Cottbus, noch erhalten, d.V.). Hans hatte im Regiment der Garde du Corps als Rittmeister gedient.

Hans` Sohn Wilhelm (Willy), der, erst sieben Jahre alt, nun Witzschersdorf erbte, hat davon noch weniger als sein Vater gehabt. Denn er wurde leider frühzeitig geisteskrank, kam in ein Kurheim und starb bereits 1930 mit 45 Jahren. Er hatte außer Witzschersdorf noch das Schloss Lagow in der Neumark (ist noch erhalten, d.V.; s.S. 44 ) von seiner Tante, Gräfin Wrschowetz geerbt. Seine Mutter, Margot, die bis zur Vertreibung 1945 durch die Russen mit ihren beiden Töchtern auf dem Schloss wohnte, verwaltete die beiden Besitze bis zu seinem Tod.“

Volkmars Informationen stützten sich auch auf „Altgeographische Streifzüge durch das Hochstift Merseburg“ von Pastor O. Küstermann. Volkmar war nun, 1930, Erbe seines verstorbenen Vetters (dritten Grades) Wilhelm Wurmb v. Zinck geworden.    

Auf ihren Wunsch hin führte Volkmar seine Gäste jetzt durch die Ställe. Feuchtwarme, tierisch duftende Stallluft umfing sie. „Wir haben hier sechs Paar Zugpferde, schweres Kaltblut, ein Paar davon etwas leichtere. Drei Gespanne sind unterwegs: Eines bringt gerade Stroh aus der Feldscheune als Nachschub für den Hof, ein anderes holt mit dem Rollwagen, einem leichten, gefederten Plattformwagen, Fracht vom Bahnhof, dem dritten schlägt der Dorfschmied neue Eisen unter die Hufe. Wir haben jetzt gerade eine arbeitsarme Zeit und Glück, dass nicht alle Pferde draußen sind. – Hier nun stehen 35 schwarzbunte Kühe (schwarzweiß) und ein Deckbulle. Das Melken, Füttern, Tränken und Misten der Tiere besorgen der Ober- und Unterschweizer, so nennt man das Melkpersonal, sowie ein Lehrling. Sie versorgen auch etwa 15 Jungrinder einen Stall weiter, und die etwa 40 Zucht- u. Mastschweine, die wir eben sahen. Der Schweizer hat mit seiner Frau eine kleine Wohnung auf dem Hof; sein Arbeitstag ist ja auch lang. Schon morgens um sieben holt das Milchfuhrwerk die ermolkene Abend- und Morgenmilch für die Molkerei vom Hof ab. Vielleicht werden einmal Melkmaschinen das Melken erleichtern. Der Schweizer gibt als Milchleistung etwa 3.000 Liter je Kuh und Jahr im Stalldurchschnitt an. – Hier am Ende des Stalltraktes stehen noch vier Paar Zugochsen, die ihre Feldarbeit gemächlich, jedoch mit großer Ausdauer verrichten.“ ­­

Auf der anderen Seite des Hofes, nahe dem Hoftor, zeigte der Gutsherr die Stellmacherwerkstatt. Es roch nach bearbeitetem Holz und nach Wagenschmiere. „Der Stellmacher sorgt für die Instandhaltung des Wagenparks und macht auch kleine Reparaturen in Haus und Hof. Benötigte Eisenteile und Beschläge fertigt unser Dorfschmied  an“,  erläuterte  Volkmar.

Der Rollwagen mit dem Ersatzteil war schon zurück und das Gespann jetzt frei für eine Kutschfahrt über die Felder. Dazu reichte die Zeit noch. – Volkmar informierte zuvor: „Das Gut ist alles in allem 485 Morgen groß. Vier Morgen sind ein Hektar oder 10.000 Quadratmeter. Das Gut ist mit 121,3311 Hektar im Grundbuch eingetragen. Gleich am Nordrand des Dorfes liegen 300 Morgen Ackerland in einem Stück. Die sind schnell erreicht. Ein Mittelweg führt uns dann eineinhalb Kilometer längs durch das etwa 500 Meter breite Rittergutsfeld.“

 „Also hüh!“ Nach kurzer Holperfahrt über das jetzt 40 Jahre liegende Dorfpflaster ging es geradeaus weiter auf dem langen Feldweg. Weit schweifte der Blick über die freie, ebene Feldflur. Eine Seite des Weges säumten Apfelbäume. „Komm Liese, lass den Hans nicht allein ziehen!“ Der Kutscher kitzelte den rechten Braunen mit der langen Peitsche. „Die Liese ist im vierten Monat trächtig, sie sollte bald nur noch leichte Arbeit tun“, erläuterte er, sich auf seinem Kutschersitz umwendend. „Darf ich doch sagen, Herr Baron, oder?“ Diese Anrede des Gutsherrn war hier noch üblich. „Ja, natürlich! Und passen Sie nur gut auf die Stute auf!“, antwortete Volkmar. „Wann wird denn das Fohlen kommen?“, fragte einer der Mitfahrer. „Sieben Monate wird‘s noch dauern“, war die Antwort des Kutschers.

Sie fuhren an der offenen Feldscheune vorbei. Volkmar wies nun mit dem Arm in die Runde:  „Hier haben wir einen Blick auf die dunkelgrünen Zuckerrüben- und goldgelben Weizenfelder. Der fruchtbare Lösboden – Bodenzahl über 80 – ergibt, zusammen mit guter Düngung, den kräftigen Wuchs. Bald werden unsere beiden Mähbinder die Getreidepläne umrunden, von je drei Pferden gezogen, werden das Getreide mähen und zu gleichmäßig festen Garben binden und laufend abwerfen. Eine Gruppe Frauen wird sie zusammentragen und in Reihen zu ‚Hocken‘ oder ‚Puppen‘ aufstellen, damit Sonne und Wind sie trockne. Nach mehreren Tagen, je nach Wetter, werden die mit breitem Ladegestell versehenen Ackerwagen an den Reihen entlang und schließlich hochbeladen, dabei sorgfältig und gerade  gepackt, zur Feldscheune oder auch zum Hof fahren, wo man sie entlädt und sie zurückkehren, bis das Feld geräumt ist. Vor den von vielen fleißigen Händen bis unter’s Dach gepackten Getreidebansen in Feld-, Dorf- und Hofscheune verrichtet dann im Winter die dort aufgestellte Dreschmaschine kräftig staubend ihre Arbeit.

Die Zuckerrüben sind eine ‚Hackfrucht‘. Bis zum Schließen der Reihen benötigen sie viel Pflege mit den Handhacken der Frauen gegen das Unkraut. Eine von einem Pferd gezogene Hackmaschine hilft dabei. Das folgende ‚Verziehen‘, das Vereinzeln der Rüben, haben die Schulkinder, auf Knien rutschend, gegen ein gutes Taschengeld verrichtet während der ‚Zuckerrübenferien‘ (drei Wochen, und drei Wochen Herbstferien, d.V.). Ein Erwachsener passt auf, dass bei dieser wichtigen Arbeit keiner pfuscht.

Im Spätherbst werden die Zuckerrüben mit Spezialgabeln aus dem schweren Boden gehoben, die Blätter von der Rübe geköpft, beides getrennt abgefahren, die Rüben in die Zuckerfabrik im acht Kilometer entfernten Lützen, das Blatt in flache Gärfuttersilos am Feldrand. Das ergibt ein von den Kühen gern gefressenes Saftfutter, denn diese müssen wegen fehlenden Weidelandes leider das ganze Jahr im Stall stehen. Die Zuckerfabrik gibt entzuckerte, getrocknete Rübenschnitzel als Zusatzfutter zurück.

Dort drüben sehen wir noch Roggen, Gerste, Hafer für die Pferde, Luzerne, genannt die "Königin der Futterpflanzen", und, vorn auf dem mehr sandigen "Steinberg", noch Kartoffeln als Förderer der Bodengare und für die Schweinemast. Sie alle sorgen für eine gute Fruchtfolge. Unser Winterheu? – Das im Juni gemähte Gras wird zum Trocknen gewendet, in Reihen gezogen und mit langen Gabeln aufgeladen zur Fahrt nach Hause von unseren leider zwölf  Kilometer entfernten  Wiesen.  Es   wird  auf  dem  Stallboden eingelagert.– Nur gutes Wetter ergibt gutes Heu.“ 

Nach staubiger Fahrt wurde am Gasthaus Plato „Zur freien Aussicht“ am Dorfrand angehalten und ein erfrischender Schluck zu sich genommen. Der Kutscher trank hastig; er mochte die auch durstigen Pferde nicht lange allein lassen. „Fahren Sie man schon los!“ Damit entließ Volkmar den Kutscher. Die übrigen besprachen noch das Gesehene und waren dann nach einem Fünf-Minuten-Fußweg auch bald zu Hause.

Ehe sie aber den Gutshof erreichten, blieb einer der Gruppe stehen und betrachtete eine Steintafel, die in eine Wand zwischen zwei Scheunentoren eingelassen war. „C. Wb. v. Z. 1853“ stand dort eingemeißelt. Volkmar erklärte: „Diese Initialen stehen für ‚Carl Wurmb v. Zinck‘. Der schon erwähnte Husarengeneral, mein Urgroßvater, hat im Jahr seiner Verabschiedung, 1853 also, diese massive Scheune hier an der Dorfstraße, gleich neben der Gutseinfahrt, errichtet. Man brauchte Stauraum, zumal die heutige Hofscheune damals, vor dem Brand, Schafstall war. – Gehen wir nun ins Haus; Margarita wird das Abendessen wohl schon gerichtet haben!“. . .                  

Dieser Tag in Witzschersdorf klingt hiermit aus. Wir verlassen jetzt die Gruppe und betrachten für uns die Ereignisse seit Volkmars Erbantritt 1930. 1897 geboren, musste er sich als Oberleutnant der Reichswehr die Annahme des Erbes reiflich überlegen. Ein erstelltes Wirtschaftsgutachten machte ihm dann die Entscheidung leicht. Der Gutachter: „Zu Ihrer Erbschaft kann man Ihnen nur gratulieren!“ So nahm Volkmar 1937 als Hauptmann seinen Abschied vom Militärdienst und zog mit seiner Familie, Frau und zwei Söhnen, Jahrgang 25 und 28, nach Witzschersdorf. Er wollte die Gutswirtschaft selbst führen. Das Gut war aber noch bis 1944 verpachtet. Volkmar hatte somit noch sieben Jahre Zeit zur Eingewöhnung. Dabei half ihm sein Schwager Walther Lübbe, Fachmann in landwirtschaftlicher Betriebsführung, und sein Schwiegervater Friedrich Köper unterstützte ihn finanziell. –  In dieser Zeit suchte Volkmar und fand auch den Kontakt  zum  Dorfe.

Der 1939 ausbrechende Krieg setzte alledem  ein Ende. Volkmar wurde als Reserveoffizier wieder eingezogen, kam nach Polen, dann nach Russland. 1942  wurde er zum Major befördert und mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet. 1943 gelang es ihm, sich u.k. (unabkömmlich) stellen zu lassen. Das Gut Witzschersdorf war 1936 zum Erbhof nach dem Erbhofgesetz erklärt worden, und Volkmar nannte sich Erbhofbauer. Wohl dadurch und wegen des Ablaufs des Pachtvertrages am 29. Februar 1944 wurde seine Heimkehr noch vor Kriegsende möglich.

Doch schon bei der Betriebsübernahme begannen für Volkmar die Schwierigkeiten. Die Kuhherde des Pächters, einer Rübenbaugesellschaft, bestand großenteils aus abgemolkenen Kühen, deren Übernahme Volkmar verweigerte. Die Gebäude und das tote Inventar waren in letzter Zeit vernachlässigt, der Zuckerrübenanbau zu stark ausgeweitet, die Felder zum Teil verunkrautet. Das hatte Volkmar mit dem Pächter noch auszufechten. – Zur Verbesserung der Feldwirtschaft hatte er schon vor Pachtablauf einen 45-PS-MAN-Schlepper angeschafft, um ihn rechtzeitig zur Frühjahrsbestellung einsetzen zu können. Damit hatte er auch die Motorisierung des Betriebes eingeleitet.

Neue Probleme drängten sich auf. Die nahen Leunawerke (9 km) waren zunehmend Ziel von Luftangriffen, was auch die umliegenden Orte zu spüren bekamen. Im Herbst 1944 mit Wintersaat schon bestellte Felder wurden durch Bombentrichter verwüstet, was Volkmar viel Ärger bereitete. Margarita hatte mit der Aufnahme der Verwandten zu tun, die hier vor den städtischen Bombardements Schutz suchten. Aber auch hier gingen durch nahe Bombeneinschläge Fensterglas und Dachziegel zu Bruch, was notdürftig repariert werden konnte.

Wenn es dabei geblieben wäre! Doch am 5. April 1945, nach Mitternacht, ging eine britische Fliegerbombe, sehr wahrscheinlich aber eine Luftmine, dicht hinter der Hofscheune des Rittergutes nieder. Der nach oben abgestützte Kartoffelkeller unter der Scheune wurde seitlich eingedrückt.  Siebenunddreißig  Personen hatten darin Schutz gesucht, es überlebte e i n e ! 

Nur noch tot konnten geborgen werden: Volkmar Wurmb  v.  Zinck mit seiner Frau Margarita und  dem jüngeren Sohn Lutz, sieben nahe Verwandte und fast die ganze Gutsbelegschaft, darunter 16 Polen. Das Verwalterehepaar Kulbe war im Gutshaus auf der anderen Hofseite geblieben, ihm  war  nichts  passiert!  

Die Gebäudeschäden waren außergewöhnlich groß. Fast die Hälfte des Gutshofes mitsamt dem Torhaus mit Turm war zerstört, die übrigen Gebäude beschädigt, auch der Nachbarhof verwüstet. Pferde und Rindvieh lagen unter Trümmern begraben. Viele Häuser im Dorf waren demoliert, ihre Dächer abgedeckt. – Zwölf Tage später besetzten US-Truppen das Land; bis dahin fielen keine Bomben mehr. Die letzte noch brachte über Witzschersdorf Tod und Zerstörung! 

Das Drama ging weiter. Am Unglückstage schon reisten Angehörige der Toten nichtsahnend an: Volkmars Schwester Jutta Lübbe und Tochter Isy, die aus Schlesien schon vor den Russen geflüchtet waren, standen vor rauchenden Trümmern, Mann und Vater lagen zu ihrem Entsetzen tot im Saal des Gasthauses, neben den anderen Toten auf Stroh gebettet. – Am Tag danach kam der Kaufmann Fritz Köper, Margaritas Bruder, von Bremen, nach seiner Frau und seinen drei Töchtern zu sehen – statt dessen  musste er helfen, auf dem Schladebacher Friedhof ihre Gräber zuzuschaufeln. Gegen Schmerz und Verzweiflung ankämpfend, versuchte er, den Betrieb des herrenlos gewordenen Gutes mit nachbarlicher Hilfe für den Erben aufrecht zu erhalten. Juttas Sohn, Bernd-Lothar Frhr. v. Maltzan,  wurde aus der Nähe zur Beerdigung gerufen; er half dann, auch im Dorf, beim Wiedereindecken der Dächer. Die „Landschaft der Provinz Sachsen“ stellte nach einer Ortsbesichtigung ein Darlehen in Aussicht zum Wiederaufbau von Ställen und Scheune.

Erbe war nun Volkmars älterer Sohn Wolfdietrich – falls er noch am Leben war. Denn von ihm fehlte jede Nachricht. Er saß in amerikanischer, dann französischer Gefangenschaft und erfuhr erst ein Jahr später von dem Unglück. Nach seiner Entlassung 1949 gab es für ihn keine Rückkehr nach Witzschersdorf mehr; er fand dafür ein Unterkommen bei seinem Großvater Köper in Bremen.

Denn inzwischen, im September 1945, war das väterliche Gut entschädigungslos enteignet  worden, nachdem es unter sowjetische Besatzung geraten war. Es wurde sogleich unter zehn Bauernfamilien aufgeteilt, die aus den besetzten deutschen Ostgebieten geflüchtet oder vertrieben worden waren. Jeder Familie wurden knapp 6 Hektar vom Rittergutsfeld zugeteilt; einheimische, „landarme“ Bauern und Landarbeiter erhielten Klein- und Kleinstparzellen. Der Rest wurde mit einer Landmaschinenstation sowie mit mehreren Wohnhäusern bebaut.   

Die im Gutshaus untergekommenen Wurmbschen  Verwandten  mussten fünf  für den Gutshof bestimmten „Neubauer“-Familien Platz machen und, unter Zurücklassung aller Wurmbschen Habe, die ihnen im Dorf zugewiesenen Unterkünfte beziehen. 1947 wurden alle „Angehörigen der Sippe von Wurmb“ des Landkreises verwiesen.

Auf dem Gut begannen 1949 die „Umbaumaßnahmen“: Der Südflügel des Wohnhauses wurde durch Abbruch des oberen Stockwerkes zur einstöckigen Bauernstelle. In die übrigen Gebäude riss man Baulücken. Dem fiel auch der andere Flügel des Gutshauses ganz zum Opfer.  Den Ausbau der so entstandenen Einzel-Bauernstellen mussten die „Neubauern“ unter der Aufsicht der kommunistischen Baubehörde selbst bewerkstelligen. Und wehe, es baute einer zu hoch! – Der Gutsgarten wurde auch parzelliert, die Kastanienallee zu Brennholz verarbeitet. Die Liquidierung des Rittergutes aber nach 660 Jahren Bestand bleibt ein trauriges Beispiel dafür, was menschlicher Unverstand anrichten kann. – Diese Erzählung möchte nicht nur dieses aufzeigen, sondern viel lieber darstellen wie Witzschersdorf sich entwickelt und wie es zuletzt gelebt hat.

 

Das Zincksche Wappen über einer Seitentür

 

 

 

21.10.2004